Osterode am Harz. Ein bescheidener Musiklehrer aus Badenhausen lehrt Kinder die Liebe zur Musik. So manche von ihnen stehen heute auf den ganz großen Bühnen.

Am Rande des Harzes lebt ein musikalisches Talent, ganz bescheiden auf drei Zimmern in Badenhausen. Wolfgang Kahls Refugium ist in etwa so, wie man sich die Wohnung eines künstlerischen Genies vorstellt: Zwischen Keyboards und Computern liegen Notenblätter und Partituren verteilt, in jeder Ecke steht ein anderes Souvenir, zweifelsohne jedes mit einer anderen Geschichte dahinter. Es riecht exotisch nach Kaffee mit Kardamom. Kahl scheint die Dinge zu sammeln, die ihn inspirieren – ein Gemälde eines syrischen Künstlers aus Osterode steht prominent in seinem Wohnzimmer: Ein Engel, gestürzt, stützt sich mit gesenkten Haupt auf den Boden, seine Flügel noch zum Himmel gestreckt. Das Bild ist Inspiration für Kahl und Beweis für sein Engagement in und um Osterode. Was er so aufnimmt, gibt Kahl als Musiklehrer weiter an seine Schülerinnen und Schüler, seit Jahrzehnten. Und die Saat, die er gesät hat, trägt längst Früchte.

Zwei Söhne hat Kahl groß gezogen, beide darf man heute als Rockstars bezeichnen. Das macht Wolfgang Kahl wahrscheinlich zum erfolgreichsten Musiklehrer im Harz. Sein ältester Sohn, Niklas Kahl, ist rund um Osterode kein Unbekannter. Der Mann mit dem stolzen Bart spielt die Drums und liebt die harten Klänge: Für die Metal-Band Lord of the Lost sitzt er am Schlagzeug, tourt mit seinen Kumpanen um die ganze Welt, begleitet als Vorband die Legenden von Iron Maiden durch die Stadien. Vor Tausenden hat er so schon gespielt und auch am Eurovision Song Contest in Liverpool teilgenommen – auch wenn der Erfolg ihnen dort nicht vergönnt war.

Viele kennen den passionierten Musiklehrer Wolfgang Kahl aus Badenhausen. So mancher seiner Schüler hat es auf die großen Bühnen dieser Welt geschafft.
Viele kennen den passionierten Musiklehrer Wolfgang Kahl aus Badenhausen. So mancher seiner Schüler hat es auf die großen Bühnen dieser Welt geschafft. © FMN | Kevin Kulke

Mundharmonika und Akkordeon-Experte aus dem Harz

Und auch Wolfgang Kahls jüngerer Filius hat bereits eine beachtliche Musikerkarriere hingelegt. Timo Kahl, eigentlich gelernter Mediengestalter, spielt die Bass-Gitarre, aktuell für den Newcomer Michèl von Wussow. Im vergangenen Jahr ist er mit der Band der Support für Truppen wie Silbermond und Johannes Oerding, für Max Giesingers erstes Album hat er das Plattencover gestaltet. Zur Belohnung gab es eine goldene Schallplatte.

Wolfgang Kahl, der stolze Vater, arbeitet dabei immer im Hintergrund mit. Er hilft, wo er kann. Musikalisch, aber auch ein bisschen mit PR: Wenn einer seiner Söhne ein neues Video produziert hat, verteilt Kahl es auf allen Kanälen, organisiert auch schon mal Public Viewings in Osterode für die richtig großen Auftritte. Als sein Sohn Niklas mit Lord of the Lost ein Video mit Western-Ambiente drehen will, fragt er seinen Vater, ob er ihm mal ein Mundharmonika-Stück einspielen könnte? Für Kahl ein Klacks: Sein Sound ist jetzt im Video zum Song „Viva Vendatta“ verewigt. Er hat es fix zu Hause aufgenommen und per Whatsapp rübergeschickt.

Niklas Kahl von Lord of the Lost auf dem Rockharz Festival in Ballenstedt im Sommer 2023. Sein Vater brachte ihn einst zum Rock‘n‘Roll.
Niklas Kahl von Lord of the Lost auf dem Rockharz Festival in Ballenstedt im Sommer 2023. Sein Vater brachte ihn einst zum Rock‘n‘Roll. © FMN | Kathrin Franke

Was ist das Geheimnis des Musiklehrers aus dem Harz?

Doch nicht nur die eigenen Söhne sind es, die Kahl von den ersten Klängen bis zum musikalischen Vollzeitjob begleitet hat. „Mindestens elf ehemalige Schüler von mir sind heute professionelle Musiker“, zählt er auf. Kahl verfolgt ihre Karrieren immer noch. Zum Beispiel von Felix Roch, der heute in Osnabrück Musik produziert. Da fragt man sich schon, wie es Wolfgang Kahl gelungen ist, aus beiden seiner Jungs und einer Menge anderer Schülerinnen und Schüler so erfolgreiche Musiker zu machen?

Denn Wolfgang Kahl ist zwar Vollblutmusiker, aber keine extrovertierte Rockstar-Persönlichkeit. Tatsächlich ist Kahl ein ruhiger Mensch, spricht bedächtig und mit Nachdenklichkeit in der Stimme. Besonders gern spricht er, wie viele Künstler, über die Menschen, die ihm selbst die Leidenschaft zur Kunst mitgegeben haben. Für ihn ist das der Vater, der Posaune spielte, der ihm einst die Liebe zum Musizieren in die Wiege legte. Und ganz besonders Karl Bartels: Der Musiklehrer, der sein Musikgeschäft bis 1986 im Falkenweg in Osterode hatte und so manchen jungen Musiker in seiner Zeit gefördert hat. Kahl ist einer von denen, die Bartels schon mit acht Jahren am Akkordeon unterweist.

Mit ziemlichem Erfolg. Kahl ist erst 15 Jahre alt, als er 1974 am durch Bartels initiierten ersten Musikwettstreit in der Stadthalle Osterode teilnimmt. „Haydn habe ich da gespielt“, erinnert er sich heute: „Ouvertüre alla Zingarese, ziemlich virtuos, klassisch.“ Er gewinnt. Das bringt den Stein ins Rollen. „Ich vergesse vieles heutzutage“, sinniert Kahl. „Aber ich vergesse nie, wie mein Vater eine Woche später zu Karl Bartels sagte: ‚Was mache ich nur mit dem, der weiß immer noch nicht, was er werden will.‘“ Karl Bartels aber weiß spätestens nach diesem Erfolg längst die Antwort: „Der Junge“, sagt er, „muss was mit Musik machen.“ Er schickt den jungen Wolfgang zur gleichen Musikschule, die er selbst einst besucht hatte - nach Trossingen im Schwarzwald, an das Hohner-Konservatorium.

Timo Kahl, jüngster Sohn von Wolfgang Kahl, ist ebenfalls kreativ unterwegs: als Musiker und Designer in Berlin.
Timo Kahl, jüngster Sohn von Wolfgang Kahl, ist ebenfalls kreativ unterwegs: als Musiker und Designer in Berlin. © privat | Timo Kahl

Vom Harz in den Schwarzwald: Die musikalische Reise des Wolfgang Kahl

Hier findet Kahls berufliches und künstlerisches Leben fortan seine Gestalt: Er besteht die Eignungsprüfung des Konservatoriums, lebt fortan im Wechsel zwischen Schwarzwald und Harz. Kein leichtes Brot für den 16-jährigen Kahl, auch weil die meisten seiner Mitschüler viel älter sind als er. Doch die Jahre prägen ihn bis heute: „Das Gute an unserer Ausbildung war, dass wir alle Instrumente beherrschen mussten, die dort gebaut wurden, bei Hohner. Das war eine sehr umfassende musikalische Schulung.“ Hohner, das ist der Traditionsproduzent für Akkordeons, Blockflöten und vor allem: Mundharmonikas. Mit der Tüftelei kennen sie sich aus im Südwesten: Bruce Springsteen, Bob Dylan und zahlreiche andere Blues- und Rockgrößen schwören auf die Instrumente aus dem Schwarzwald bis heute. Die Verbundenheit mit der Schule hat auch Kahl immer bewahrt. Noch immer zieren die Poster der Firma seine Wände.

Mit knapp 20 Jahren ist Kahl fertig ausgebildet – ist jetzt staatlich geprüfter Musiklehrer. Eine Zeit unterrichtet er noch im Schwarzwald, muss dann zur Bundeswehr, macht auch dort Musik, aber mehr für die Stimmung auf Stube: „Das war das Tolle“, erinnert er sich heute „Es gehörte immer zusammen, die Musik in der Freizeit und im beruflichen Alltag.“ An der Kreismusikschule, erst im Landkreis Osterode, später dann in Göttingen, ist er dann ab Ende der 80er-Jahre der Mann für Mundharmonika, Keyboard, Akkordeon und mehr.

In den über 40 Jahren seitdem hat er hunderte, vielleicht tausende Schülerinnen und Schüler begleitet. Für Kahl ist alles Musik und so gibt er es weiter. So auch an seine Söhne, die in einer Familie aufwachsen, in der praktisch zu jedem Zeitpunkt musiziert wird. „Wir haben die Kinder eigentlich immer dabei gehabt. Das war einfach so“, erinnert er sich, an die frühen Jahre seiner Zeit an der Kreismusikschule und bei verschiedenen Orchestern. Natürlich mussten die Söhne auch üben, aber in Kahls Augen haben seine Jungs schon früh aus sich selbst heraus das Talent gezeigt: „Ich erinnere mich, dass Timo auf dem Sofa lag als Kind und auf der Trompete blies, ohne je geübt zu haben. Und die Töne waren einfach da.“

Wolfgang Kahl: Der Badenhausener ist seit über 40 Jahren Musiklehrer und ein absoluter Akkordeon-Experte.
Wolfgang Kahl: Der Badenhausener ist seit über 40 Jahren Musiklehrer und ein absoluter Akkordeon-Experte. © GT | Jan-Philipp Brömsen

Harzer Musiklehrer Wolfgang Kahl: Gemeinsam Musik machen, ist das Geilste

Angeborenes Talent hin oder her: Weil Kahl sich immerzu Gedanken macht, wie man Musik vermitteln kann, ist er als Lehrer wahrscheinlich so effektiv. Ihm ist es wichtig, Kindern schnell Erfolge zu vermitteln, damit sie Freude finden am Musizieren. Seine Allzweckwaffe dafür: die Mundharmonika. „Atmen, das ist das Natürlichste, was wir Menschen machen“, erklärt er seine Gedanken. „Man muss einfach nur atmen, dann kommen die Töne schon.“ Doch was, wenn atmen nicht so ideal ist, auf einmal? Zum Beispiel während einer globalen Pandemie? Kahl findet einen Weg. Über zahlreiche Spenden und Fördermittel organisiert er mehrere Zithern, damit die Musik trotz allem weiterspielt: The show must go on.

Wolfgang Kahl hat sich nie gegen das Neue verschlossen, im Gegenteil. Aktuelle Musik, Rock und Pop, auch auf eher traditionellen Instrumenten spielbar zu machen, gehört zu seinen Grundsätzen. In den 80ern macht er sich mit Synthezizern und Keyboards vertraut, als diese langsam das Akkordeon verdrängen. Wird Fan vom Elektronik-Pionier Jean-Michel Jarre. „Ich suche immer nach neuen Impulsen und frage mich, wie man möglichst viele Menschen mit einbeziehen kann“, erklärt er seinen Antrieb. Denn Musikmachen in der Gruppe, das ist für Kahl immer das Schönste: „Ich will Musik machen mit Leuten, die da Bock drauf haben. Wenn man alle miteinbezieht – das ist so geil!“. Wenn er über seine Arbeit spricht, bricht aus dem gemütlichen Kahl die Leidenschaft geradezu heraus.

Niklas Kahl, Schlagzeuger der Band Lord of the Lost, erinnert sich: Die erste Maxi-CD von den Ärzten hat er von meinem Vater bekommen.
Niklas Kahl, Schlagzeuger der Band Lord of the Lost, erinnert sich: Die erste Maxi-CD von den Ärzten hat er von meinem Vater bekommen. © HK | Ralf Gießler

Sogar die Tapete macht in Badenhausen noch Musik

Dass seine Söhne von Kahls Begeisterung profitiert haben, ist naheliegend. Drummer Niklas Kahl erinnert sich, dass er es seinem Vater schlussendlich zu verdanken hat, dass er zum Rock‘n‘Roll gefunden hat: „Er hat mir damals meine erste Maxi-CD von „die ärzte“ gekauft (‚Goldenes Handwerk‘, ein Song, in dem es um Schlagzeuger geht) und später kam er mit einer CD meiner (seither und bis heute) Lieblingsband Nightwish, einer finnischen Metal-Band.“

Stehen bleiben, das kann Kahl einfach nicht. Musik existiert für ihn in vielfältigen Räumen. An der Wand seiner Wohnung in Badenhausen hängt wie zum Beweis eine große Partitur, ein Stück, das ein Lehrer von ihm im Schwarzwald einst komponierte. Es heißt „Victor Gorgias Einschlafmaschine“, ein Arrangement für Mundharmonika und Perkussion. Soweit Kahl weiß, wurde es nur ein einziges Mal gespielt. Eine Aufnahme gibt es nicht. Die Einschlafmaschine existiert also nur auf dem Papier. Die Noten, Anweisungen und händischen Notizen auf dem Druck, sie erschließen sich nur Menschen, die so musikalisch denken und sehen können wie Wolfgang Kahl. Sogar die Tapete macht bei dem Badenhausener noch Musik.

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